Rezension I

anne-sexton

junge welt, Radio Bremen

Renzension der Anne Sexton Werkausgabe, herausgegeben von Elisabeth Bronfen

 IMMER NUR ICH

Der Tod Anne Sextons war eine bühnenreife Inszenierung. Geprobt hatte sie oft genug: Zahlreiche Selbstmordversuche, deren Mißlingen sie oft und gern hatte kommentieren lassen – darunter auch von einer anderen Expertin im Sterbenwollen, von Silvia Plath: Bei einem Martini im Ritz, so Sexton ihrem Analytiker gegenüber, hätten sie sich versprochen, dem Tod abzuschwören, „so wie man dem Rauchen abschwört.“

Ihr Versprechen gehalten hat keine von beiden. Am 4. Oktober 1974, 11 Jahre nach Silvia Plath, brachte sich auch Anne Sexton um – in einer Art und Weise, die zumindest einen der Gründe ahnen ließ: Aufgefunden wurde sie im alten Pelzmantel ihrer Mutter, einer von ihr als gleichgültig und abweisend empfundenen Frau, deren Anerkennung sie nie hatte erringen können.

Erstaunlich genug, denn was Anne Sexton hinter sich hatte, war eine geradezu atemraubende Karriere. Gerade erst 30 und ohne jede berufliche Bildung, war das All-American-Girl mit ihrem ersten Gedichtband schon zur berühmtesten Lyrikerin ihrer Generation geworden. Diverse Stipendien, der Pulitzerpreis und seit 1972 auch ein Lehrstuhl für Literatur – an Ehrungen mangelte es nie.

„Ich lese keine Lyrik, aber ich lese Anne Sexton“, so ein Bewunderer, und deren schuf sie sich viele:

Ihre Lesungen – legendäre Auftritte einer ausnehmend eleganten Frau, die ihr Publikum stets warten ließ, um es dann in Bann zu schlagen, und das mit einer Geschichte, die trister kaum hätte sein können: das Unglück einer amerikanischen Hausfrau, ihr Kranken an family-values, an Inzest und Schuld – das war alles, wovon sie sprach.

Wenn diese so triste Geschichte faszinierte, dann nicht zuletzt deshalb, weil es eine auffallend glamouröse Frau war, die sie als ihre eigene beschrieb. Herausgegeben von der Anglistin Elisabeth Bronfen liegt jetzt eine deutschsprachige Werkausgabe vor. Eingeleitet hat sie Bronfen mit einem biographischen Essay, der eine zutiefst verstörte Frau erkennen lässt, die ohne therapeutische Hilfe weder hätte leben noch arbeiten können. Mit dem Schreiben begonnen hatte sie auf Anraten eines Psychoanalytikers, dessen Konsultation ihre Familie erzwang: 1956, gerade 28, war Sexton zusammengebrochen, außerstande, ihren Mann und vor allem ihre beiden Töchter weiter zu versorgen.

„Ich habe“, so Sexton später, „mein Äußerstes gegeben, um ein konventionelles Leben zu führen, denn so war ich erzogen worden, und auch mein Mann hatte diese Erwartung an mich. Aber auch wenn man kleine weiße Gartenzäune aufstellt, kann man nicht verhindern, dass Albträume kommen.“

Verlassen haben sie diese Albträume zeitlebens nicht mehr. Was Sexton artikulierte, war das Unbehagen in einer dezidiert maskulinen Kultur. Dass sie dieses Unbehagen nicht nur sehr subjektiv, sondern auch äußerst egozentrisch beschrieb, war Sexton durchaus klar.

„Ich, ich, ich, immer nur ich,“

… heißt es in einem ihrer Gedichte, deren Exhibitionismus nur deshalb zu ertragen ist, weil er sich schamlos gibt im besten Sinn des Wortes: „Zur Feier meines Uterus“ oder „Ballade von der einsamen Masturbation“ betitelt sie zwei ihrer Gedichte. Hemmungslos spiegelt sie sich in den Erfahrungen anderer, in denen zum Beispiel, die die Grimmschen Märchen beschreiben: Ablehnung von Seiten der Eltern erfahren nicht nur Hänsel und Gretel, sondern auch sie; desgleichen Liebe unter Frauen – eine Erfahrung, die sie mit Rapunzel teilt. Die Eigenwilligkeit und Komik ihrer Umschriften haben amerikanische LeserInnen begeistert, die deutsche Werkausgabe präsentiert sie gleich zu Anfang – wohl um Sexton als eine Dichterin einzuführen, die sich das eigene, aber eben nicht nur das eigene Unglück von der Seele schrieb. Genau das nämlich tat sie in jenen drei Büchern, die Bronfen im zweiten Band der Werkausgabe versammelt:

„In meinem ersten Buch Ins Tollhaus und halb wieder heraus habe ich über den Wahnsinn geschrieben, über meine Erfahrungen damit, im zweiten Buch Alle meine Lieben über die Ursachen des Wahnsinns, und im dritten Buch Lebe oder Stirb habe ich, glaube ich, entschieden, ob ich leben oder sterben will.“

Eine Leidensgeschichte also, erzählt von einer Frau, deren Bekenntnisdrang nichts, aber auch gar nichts zu verschweigen scheint, ihre seelische Grausamkeit den eigenen Töchtern gegenüber ebensowenig wie Medikamentenmißbrauch. Und dennoch: So rückhaltlos offen sich ihre Gedichte auch geben – die ganze Wahrheit erzählen sie nicht. So jedenfalls ist zu vermuten nach Lektüre des dritten Bandes der Werkausgabe. Gewidmet ist dieser dritte Band einem Selbstportrait der Dichterin, und zwar so, wie es ihre Briefe zeichnen.

Nicht, daß die Anne, die sich hier vorstellt, eine völlig andere wäre als die der Gedichte: Zusammengelesen ergeben auch die Briefe einen Familienroman, der den lyrisch erzählten durchaus bestätigt: Mißbrauch durch den gleichwohl geliebten Vater, Mißachtung von seiten der Mutter, eine inzenstuös gefärbte Beziehung zur Großtante – Kindheitserfahrungen einer Frau, die mehr als ausreichten, um sie in Depressionen zu stürzen. Die Briefeschreiberin nicht anders als die Lyrikerin – beide deuten diese Erfahrungen als Auswüchse einer patriarchalen Kultur, deren Rollenzwänge besonders Frauen Gewalt antun.

Doch ganz anders als die Gedichte lassen die Briefe eine Frau erkennen, die von eben den Rollenzwängen, an denen sie krankt, gleichzeitig auch zu profitieren weiß – und das mit allergrößter Selbstverständlichkeit. Über ihren Mann etwa schreibt sie einem Verehrer am 4. Mai 1966:

„Ich glaube Dir, daß Du mich liebst. … Trotzdem bin ich mit einem SPIESSER verheiratet. Er ist gut für mich, denn er hat fix und fertige Vorstellungen darüber, wie jeder Tag zu bewältigen ist. Er ist von dieser Welt. Ich bin ganz und gar nicht von dieser Welt. Und Du? Vielleicht ist Deine Frau von dieser Welt. Und vielleicht sind Du und ich von einer anderen Welt – Dichter, um genau zu sein. Dichter … atmen nur sich selbst – sie brauchen die vernünftigen Menschen, die Menschen der praktischen Häuslichkeit. Du brauchst sie. Ich brauche sie.“ (S. 339)

„Brauchen“ – ein immer wiederkehrendes Wort in den Briefen von Anne Sexton, ob nun in denen an Familienangehörige oder denen an Freunde, Verleger, andere Dichter und Dichterinnen. Kein Brief, der ihre Hilflosigkeit nicht erwähnte – ganz so, als wolle sie einfordern, was eine patriarchale Kultur ihr versprach, daß nämlich nicht sie selbst für sich zu sorgen habe, sondern ausschließlich andere, Männer zumeist, dafür verantwortlich seien. Erotisiert aber hat Anne Sexton ihr Leiden auch Frauen gegenüber: „Ich liebe Dich, wenn Du mir nur hilfst“ – so etwa die Botschaft jener Briefe, die sie an Anne Clark, eine befreundete Ärztin, richtet.

Längere Zeit standgehalten hat der Unerbittlichkeit, mit der Sexton die eigene Bedürftigkeit wieder und wieder inszenierte, kaum jemand. Im Rückzug eines Gegenübers, das sich überfordert zeigt – so enden, wie die Herausgeberin anmerkt, viele der Korrespondenzen, die Anne Sexton ein Leben lang führte. Zurück blieb eine Frau, die allem Erfolg zum Trotz vereinsamt war, um so mehr, als sie sich 1973 auch von ihrem Mann hatte scheiden lassen. Lange hat sie so, ganz sich selbst überlassen, nicht leben können. Kurz vor ihrem 46. Geburtstag – ein Jahr nach der Scheidung – brachte sie sich um.