Susan Sontag – The Doors und Dostojewski
1978 erschien im Rolling Stone Magazine ein Interview mit Susan Sontag, das – damals stark gekürzt – jetzt erstmals in voller Länge und auf Deutsch vorliegt.
Allein der Umstand, dass ein Magazin wie der Rolling Stone sie interviewte, macht ihren Status klar: Susan Sontag, die Intellektuelle, war ein Superstar, genauso wie Mick Jagger oder Andy Warhol. 2004 ist sie gestorben, doch sie lebt weiter in einer Fülle biographischer Publikationen – darunter ihre Tagebücher, ein Bericht ihres Sohnes und Fotos, die ihre Lebensgefährtin Annie Leibovitz gemacht hat: von Sontag, wie sie lebt, und auch von Sontag, wie sie stirbt.
Sontag war 45, als das Interview geführt wurde, der erste Teil in Paris, wo sie eine Wohnung hatte, und der zweite in ihrem New Yorker Penthouse, einem „weihevollen Ort“, wie der Interviewer Jonathan Cott in seinem Vorwort ehrfürchtig anmerkt – mit „Blick über den Hudson River.“ Ihr vielbeachtetes Buch Über Fotographie war gerade erschienen, und Sontag war wieder halbwegs gesund, nach einer dreijährigen Behandlung gegen Brustkrebs. Was die Krebsdiagnose für ihr Denken bedeutet habe, ist die erste Frage, die Cott stellt, und Sontag antwortet beinah salopp, dass sie halt über alles nachdenke, was ihr widerfahre:
„Ich meine, wenn man sich verliebt, beginnt man ja auch darüber nachzudenken, was Liebe ist, vorausgesetzt natürlich, man neigt zum Nachdenken.“
Dass sie selbst das tat, und zwar auf höchster, wenn nicht gar allerhöchster Ebene, demonstriert Sontag mit einer unglaublichen Grandezza. Ein paar Sätze nur, mehr braucht sie nicht, und schon ist sie bei Nietzsche, Proust, Joyce. Oder dabei, was extreme sexuelle Praktiken bedeuten, kulturell gesehen. Sontag antwortet nicht, sie doziert – und das so großspurig und selbstbewusst, als wäre sie ein Mann. Genau das ist offenbar Programm:
„Wenn Frauen maskuliner und Männer femininer wären, das würde mir gefallen. In meinen Augen wäre das eine attraktivere Welt.“
Was sie als Utopie formuliert, hat Sontag für sich selbst längst umgesetzt: Im Interview präsentiert sie sich als Frau, die sich durch Geschlechterstereotypen nicht limitieren lässt, in ihrem Denken nicht und auch in ihrem Fühlen nicht. Apropos Fühlen: Auffällig ist, wie oft sie Themen wie Liebe und Sexualität anspricht. Ohne wirklich danach gefragt worden zu sein, erzählt sie, dass sie „lange Perioden der sexuellen Enthaltsamkeit“ kenne. Und dass sie unglücklich verliebt war, öfters schon, ganz einfach in „die falsche Person“.
Ihren Tagebüchern ist zu entnehmen, dass diese falschen Personen Frauen waren. Insofern ist klar, dass Sontag, die ansonsten über fast alles spricht, über eins nicht sprechen mochte, zumindest öffentlich nicht: darüber, wen sie liebt. Und das bekommt auch der Interviewer zu spüren. Als er ihren „geheimnisvollen Nimbus“ erwähnt, der gerade Frauen außerordentlich zu beeindrucken scheine, wird Sontag einsilbig – zum ersten und auch einzigen Mal im Verlauf des ganzen Interviews.
Sontag wird gewusst haben, warum. Sie, die rein persönlich kein Problem damit hatte, Frauen zu lieben und mit 16 schon gay bars in San Francisco besuchte, ging ganz offenbar davon aus, dass eine Etikettierung als Lesbe ihren Glamour trüben würde. Und vermutlich hatte sie Recht. Denn wenn selbst eine Biographie wie „Susan Sontag. Geist und Glamour“, erschienen immerhin 2007, ihre lesbischen Beziehungen doch lieber zu „Bekanntschaften“ neutralisiert, dann scheint es wohl so zu sein: Glamour und weibliche Homosexualität, das verträgt sich nicht.
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein amüsanter Essay, den die amerikanische Autorin Terry Castle veröffentlicht hat, kurz nach Sontags Tod. Castle kannte Sontag, und sie beschreibt nicht nur die geradezu abgöttische Verehrung, die Sontag in der lesbischen Community genoss. Sie erzählt auch, wie Sontag selbst immer auf der Suche war – nach anderen Stars, die beides waren, glamourös UND lesbisch:
„Joan Baez, hast du sie mal getroffen, Terry? Glaubst du, sie ist lesbisch? Und was ist mit Eudora Welty und Elizabeth Bowen? Ich sage dir, irgendwann kommt es auch bei denen raus.“
Publiziert auf AVIVA Berlin, Okt 2014